Fahrbericht McLaren 720S Spider: So fühlen sich die 720 Turbo-PS an – offen!

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Die weit nach unten gezogene Frontscheibe wird plötzlich das Tor zu einem Zeittunnel, wenn der doppelt aufgeladene und vier Liter große V8 des McLaren 720S Spider seine volle Kraft von 720 PS und 770 Nm Drehmoment auf die Hinterachse überträgt. Mit jedem Schaltwechsel in höhere Gänge macht der rund 1.400 Kilogramm leichte Supersportler einen Satz nach vorne – und steuert stets sicher und vollkommen ausgeglichen Richtung Horizont. 200 Km/h sind nach nur 7,2 Sekunden erreicht – 300 Km/h nach 22. Fest steht schon jetzt: Dieses Automobil ist eine Komposition aus Kunst, High-Tech und Unwirklichkeit. Ein Fahrbericht eines zur Maschine gewordenen Perfektionisten.

McLaren 720S Spider als teuerstes Serien-Cabrio

Der McLaren 720S Spider ist mit einem Grundpreis von rund 280.000 Euro das (oder eines der) teuersten Cabriolets, die derzeit in Serie produziert werden. Seit März diesen Jahres werden die ersten Kundenfahrzeuge ausgeliefert.

Galerie: McLaren 720S Spider Test

McLaren 720S Spider Test
Bild 3 von 9

Sein Karosseriedesign stellt eine Mischung aus organischen Formen, aerodynamisch geprägten Linien und kompromissloser Funktionalität dar. Jede Luftöffnung hat einen Sinn und erfüllt einen Zweck – jedes Karosserieelement ist bis in das letzte Detail durchdacht. Sogar die Voll-LED-Scheinwerfer sind in offene Applikationen integriert – und werden von in Kontrast-Schwarz gehaltenen Elementen flankiert. So erinnert sein Gesicht (vor allem in der silbernen Metallic-Lackierung mit dem Namen “Glacier White”) tatsächlich ein bisschen an das eines Waschbären, dessen Augen ebenfalls von schwarzem (“Kontrast-“)Fell umrandet sind.

Auffällig ist, dass fast alle Außenlackierungen bei McLaren überdurchschnittlich stark glänzen und leuchten. Beim näheren Betrachten weiß man auch warum: Der Metallic-Anteil ist extrem hoch und erinnert hier an die Lackierung von Boxautos, die oftmals schon fast glitzern – natürlich in tausendfach minderer Qualität. Das Prinzip bleibt aber.

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Die Heckpartie ist gewöhnungsbedürftig – und birgt Potential für Diskussion. Zwei Dinge, die erwähnt werden müssen: Die Ästhetik des Gesamtdesigns kommt sicherlich nur rüber, wenn man am Fahrzeug steht. Satt und mit einer extrem skulpturalen Anmutung sitzt er auf 19 Zoll Felgen vorne und 20 Zoll Rädern hinten – letztere mit 305er Breite. Nicht übertrieben, aber durchaus ein Statement, das seine athletische Philosophie unterstreicht.

Und: Auch die Heckbeplankung ist sehr luftig gehalten. Ob Öffnungen vor dem ausfahrbaren und adaptiven Heckspoiler über dem V8-Motor oder der mit Karbon-Streben verkleidete Heckbereich: Alles ist so konstruiert, dass die Aggregate genug Luft bekommen und dass diese Luft die Karosserie des Supersportlers mit möglichst wenig Verwirbelung verlässt. Schon alleine dieses funktionale und gleichzeitig spannende Design ist eine künstlerische Meisterleistung, die den Platz neben Porsche 911 im MoMa verdient hätte.

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Überdurchschnittlich übersichtliches Auto

Wenn man öfters an Sportwagentreffen (oder Cars and Coffee-Events) teilnimmt, gibt es immer eine Fraktion, die es besonders schwer beim präzisen Einparken hat. Diese Fahrzeuge, in dessen Logo meistens ein Stier verankert ist, werden oftmals auf dem Schweller sitzend mit offener Flügeltür rückwärts eingeparkt, weil einfach die Umsicht so miserabel ist, dass nur der Schwellersitz zu einem einigermaßen präzisen Einparken führt. Und überhaupt sind viele Supersportler im Alltag einfach völlig unpraktisch – siehe auch Ford GT und Co.

Gut, der vordere Kofferraum ist in etwa so groß, wie bei einem Porsche 911 (150 Liter). Dafür gibt es – nur bei geschlossenem Dach – die Möglichkeit, noch ein paar Handtaschen unter die elektrisch ausfahrbare hintere Abdeckung zu legen (58 Liter). Wenn man sich ganz besonders mag, kann man als Paar mit diesem Platz bestimmt anderthalb Wochen durch die Vogesen reisen. Mindestens.

Überraschend: Beim McLaren 720S Spider hat man sogar eine bessere Umsicht und Übersicht als in einem Porsche Boxster. Kein Witz – das Sichtfeld nach vorne ist deutlich größer, die Umsicht nach hinten ähnlich. Möglich machen das die aus Glas gefertigten C-Säulen, die nicht nur imposant aussehen und zur skulpturalen Erscheinung beitragen, sondern im Alltag richtig nützlich sind.

McLaren ist doch zu teuer? Offenen Fahrspaß gibt es auf jeden Fall auch bei anderen Traditionsmarken. Wie wäre es mit einem 981 Boxster GTS?

Überhaupt hat man im McLaren der SuperSeries ein Cockpit mit viel Platz. Grund dafür sind unter anderem die Flügeltüren, die an der Innenseite großzügige Aussparungen haben. Die Sitzposition ist gut – nicht so extrem liegend wie in einem Alfa Romeo 4C oder einem Abarth 124 Spider, aber durchaus halb-liegend. Perfekt also für lange Strecken als auch für Höchstleistung auf Rundstrecken. Denn auch die in jede Richtung elektrisch verstellbaren filigranen Karbon-Schalensitze halten einen nicht nur sanft im Sitz, sondern fühlen sich auch an, als würden sie sich dem Rücken nach einer Weile von ganz alleine anpassen; wie eine Schlingpflanze, die sich entlang der Streben des geschmiedeten Grundstückstors rankt.

Ein Auto von einem anderen Stern?

Auffallend ist, dass der McLaren 720S Spider über keine aktiv ansteuerbare klappengesteuerte Auspuffanlage verfügt. McLaren hat das noch nie gehabt – und wird es auch nie haben; sie ist ab 2020 ohnehin verboten. Zwar gibt es eine optionale Klappenanlage, die für bestimmte Geschwindigkeiten elektronisch gesteuert ist, um durch die Zulassungstests zu kommen, gleichwohl aber den V8 mit einem kernigeren Klang ausstattet. Zum Glück haben wir die an Bord. Trotzdem bleibt der Supersportler bei niedrigen Drehzahlen und Geschwindigkeiten sehr leise – britisches Understatement eben. Nach dem Motto: “Man kann ja jederzeit – und muss das nicht auch noch akustisch an seine Umgebung vermitteln.” Es schaut sowieso jeder Passant, ob er oder sie etwas von Autos versteht, etwas für Autos übrig hat oder eben nicht. Einfach jeder schaut. Als käme man vom Mond – oder von einem anderen Stern.

2,9 Sekunden auf 100 Km/h

Während man sich in der Ortschaft ohne Probleme exakt an die 50 oder 30 Km/h hält, ist nach der jeweiligen Häuseransammlung auf dem Weg von Hamburg nach Travemünde freies Land. Zurückschalten – mit einem präsenten Klicken analog einem Playstation-Controller – vom fünften Gang in den vierten-dritten-zweiten – das Heck schert schlagartig, aber kurz und minimal aus, der dritte Gang ist schon längst bei 5.000 Touren und ehe man sich versieht ist man im vierten Gang bei weit über dem Gesetz. Und man fragt sich: “Was ist eigentlich grade passiert?” Wahrscheinlich vergleichbar mit Sekundenschlaf, dass man sich an die vorigen 3 Sekunden einfach nicht erinnern kann. Irgendwie kein nachhaltiges Genießen – denn auch bei mehreren Wiederholungen ist diese Orgie schon so schnell vorbei, dass man es eigentlich auch gleich hätte bleiben lassen können. Eigentlich.

Kann man die Serienversion des GTI TCR mit dem gleichnamigen Rennwagen vergleichen? Wir haben es auf der Rennstrecke ausprobiert!

Beeindruckend dabei: Die Kraftentfaltung von 770 Nm Drehmoment hinsichtlich der Verteilung nur auf die Hinterachse: Porsche bekommt das genau so hin (nur meistens mit etwas weniger Leistung), doch es gibt viele Fahrzeuge, die “nur” 500 PS haben und nicht einmal diese Kraft auf die Hinterachse bekommen.

Absolutes Suchtmittel

Aber Geradeaus-Beschleunigung ist nicht alles. Auf kurvigen und engen Landstraßenkombinationen wird der McLaren 720S Spider zum wilden Biest, das nach jeder Kurve nach noch mehr Geschwindigkeit und Risiko giert – und mich als Fahrer mit jedem Millisekundenbruchteil geschickt dazu verführt, noch brutaler zu werden. Gefühlt gehen 20 Prozent mehr – 19, 18, 17 und so weiter, denn die Kurve nähert sich exponentiell dem Limes an. Das Heck kommt leicht, aber nie ohne Ankündigung und nie unangenehm. Ein Abreißen des Fahrbahnkontakts gibt es nicht, eher ein stetiges Abbauen des Gripniveaus, in jeder Situation zu Hundert Prozent kontrollierbar.

Ich fühle mich in diesem Rausch aus heiser, aber mächtig kreischendem V8-Hochdrehzahlmotor in meinem Rücken und einer so präzisen Steuerung der fahrend-fliegenden Karbonzelle wie in einem Zeit-Geschwindigkeitstunnel, der die Bäume an den Seiten der Überlandstraße krümmt – und meinen Geist in unentdeckte Dimensionen vordringen lässt. Gleichzeitig bin ich echt froh, dass die Landstraße nach dem fünfminütigen Ritt wieder in einer Ortschaft mündet, in die ich innerhalb von weiteren wenigen Sekunden voll hineinbremse.

Übrigens: Der Widerstand des Bremspedals ist ungewohnt hoch – und erinnert an den GTI TCR Rennwagen. Man muss tatsächlich ein bisschen Kraft aufwenden, um eine Vollbremsung einzuleiten. Der McLaren 720S Spider ist eben ein echter Rennwagen.

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Fazit zum McLaren 720S Spider

Eigentlich wird unsere abschließende Bewertungstabelle, die wir auf jeden Test und Fahrbericht anwenden, dem McLaren 720S Spider nicht ganz gerecht. Tatsächlich beschriebt dieses Fahrzeug eine Dimension, in die ich zuvor noch nie vorgedrungen bin. Die Harmonie aus Perfektion, brutaler, aber gleichwohl einfach zu kontrollierender Performance sowie einer stilvollen Symbiose aus Eleganz und Sportlichkeit entwickelt dieses Auto zur absoluten Speerspitze des Automobilbaus.

 Bewertung McLaren 720S Spider (2019)
 Optischer Eindruck +++++
 Qualität Karosserie +++++
 Lackqualität Karosserie +++++
 Qualität im Interieur ++++
 Sitzkomfort Cockpit +++++
 Sitzkomfort Fonds kein Fonds
 Digitales Bedienkonzept +++
 Raumangebot (bezogen auf das Segment) +++++
 Innenraumgeräusch / Dämmung ++++
 Lenkung +++++
 Spurtreue +++++
 Fahrwerk +++++
 Motor +++++
 Getriebeabstimmung +++++
 Innovation ++++
 Preis +
 Gesamteindruck +++++(+)
 +++++ = Maximum

Leistungsdaten des McLaren 720S Spider

MotorM840T Motor, 4,0-Liter Doppelturbo V8, 3.994ccm
AntriebsstrangLängsmontierter Mittelmotor, RWD
Leistung PS (@ U/m)720 @ 7.500 U/m
Drehmoment Nm @U/m770 @ 5.500-6.500 U/m
Getriebe7 Gang Seamsless Shift Doppelkupplungsgetriebe
LenkungElektrohydraulisch; Servolenkung
FahrwerkKohlefaser MonoCell II-S Monocoque, mit Aluminium-Front- und Heckcrashstrukturen
AufhängungUnabhängige adaptive Dämpfer, doppelte Aluminium-Querlenker, Proactive Chassis Control II (PCC II). Comfort, Sport and Track modes
BremsenKarbon Keramikscheiben (V:390mm H:380m) mit  Bremssätteln aus Aluminium (6-Kolben vorne; 4-Kolben hinten)
Felgen (Zoll)Vorne: 9’ x 19; Hinten: 11’ x 20
ReifenVorne: 245/35/R19 ; Hinten: 305/30/R20
Länge, mm4,543
Radstand, mm2,670
Höhe, mm1,196
Breite, mit Spiegeln, mm2,161
Breite, Spiegel eingeklappt, mm2,059
Breite, ohne Spiegel, mm1,930
Spur (zur Aufstandsflächenmitte), mm Voderseite: 1,674; Rückseite: 1,629 
Geringstes Trockengewicht, kg1,332 
DIN Leergewicht [Flüssigkeiten + 90%Kraftstoff]kg1,468 
Gepäckraum (DIN)Vorne: 150l; Hinten: 58l
BESCHLEUNIGUNG
0 -97km/h2.8 Sekunden
0-100km/h2.9 Sekunden
0-200km/h7.9 Sekunden
0-300km/h22.4 Sekunden
¼ mile10.4 Sekunden
Höchstgeschwindigkeit341km/h /325km/h 
200 – 0km/h Bremsung4.6 Sekunden /118 m
100 – 0km/h Bremsung2.8 Sekunden /30.3 m

Benjamin Brodbeck

Benjamin Brodbeck ist 33 Jahre alt und studierte Automobilwirtschaft bei Prof. Dr. Diez. Danach wechselte er an die Universität Wien, wo er Publizistik- und Kommunikationswissenschaften studierte und mit dem akademischen Grad 'Magister der Philosophie' abschloss. Neben seiner Tätigkeit als Jazz-Pianist bringt er seine Leidenschaft für und sein Wissen von Automobilen in Form und Sprache als Publizist bei AUTOmativ.de sowie zahlreichen weiteren Plattformen und Unternehmen zum Ausdruck.

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