Audi e-tron GT (2022) im Test: Warum e-tron GT wenn man auch Taycan haben kann?

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Ein Taycan-Verschnitt von Audi, der auch noch Spaß machen soll?! Wohl kaum – würde zumindest die vorschnelle Antwort lauten. Immerhin ist der Audi e-tron GT ein aus 40 Prozent Taycan-Teilen zusammengebauter E-Gran Tourismo. Das heißt aber auch, dass 60 Prozent der Teile neu oder mindestens adaptiert sind. Nach besonders viel Eigenarbeit seitens Audi klingt das aber trotzdem nicht, zumal man auch an der Karosserie sieht: Da steckt viel Porsche drin. Also: Warum e-tron GT, wenn man auch den Taycan haben kann?

530 PS Peak-Leistung im e-tron GT

Auf dem Papier lesen sich die Werte des Audi e-tron GT schon mal echt vielversprechend: 350 kW bzw. 471 PS leisten die beiden PSM-Maschinen – eine an der Vorderachse, eine an der Hinterachse. Die leistungsstarken Elektromotoren stemmen ein Drehmoment von 630 Nm auf die vier Räder. Nutzt man die Launch Control sind kurzzeitig (für 2,5 Sekunden) sogar 530 PS möglich. Damit sprintet der e-tron GT in 4,1 Sekunden auf 100 km/h. Bei maximal 245 km/h ist Schluss.

Galerie: Interieur des Audi e-tron GT

Interieur des Audi e-tron GT
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.. den Knöpfen: Es gibt sie wieder! Richtige Druck-Knöpfe zum "Draufdrücken". Hatte sie Audi vor ein paar Jahren weitestgehend abgeschafft und seine digitalen Oberflächen gefeiert, gibt es sie jetzt wieder. Sehr gut, gefällt uns!

Wer sich Gran Tourismo nennt, muss auch Gran Tourismo einlösen – im Sinne von Reise und Langstrecke. Für die Langstrecke verbauen die Ingolstädter einen Akku mit einer Kapazität von 93 kWh – nutzbar davon sind knapp 84 kWh. So groß das klingt und so schnittig der e-tron GT ist, so enttäuschend ist der Wert laut WLTP: Denn der e-tron GT soll mit einer Ladung nur 450 Kilometer weit kommen. Das bedeutet in der Realität, dass 350 Kilometer drin sind. Bei überwiegend moderater Fahrweise. Denn um das einmal vorwegzunehmen: So richtig effizient ist der e-tron GT nicht. Bei sehr zurückhaltender Autobahnfahrt sind selbst Verbräuche unter 20 kWh/100 km kaum schaffbar. Und wer schneller als 120 km/h fährt (also ganz normal) hat durchaus 26 bis 32 kWh auf der Uhr stehen. Und dann sind wir schon bei rund 300 Kilometer Reichweite. Wer das volle Potenzial des e-tron GT ausschöpft und auf der Autobahn so fährt wie mit einem 3-Liter-Biturbo-Diesel fährt von Ladestation zu Ladestation.

Immerhin: Im Gegensatz zum Mercedes-Flaggschiff EQS ist eine Wärmepumpe serienmäßig an Bord um Reichweitenverluste durch die Heizung zu minimieren. Also gerade bei unserem Test bei kalten Temperaturen essentiell.

Neben unserem Fahreindruck des Audi e-tron GT haben wir schon die reinen Daten und Fakten über beide Modelle – RS sowie e-tron GT – bei ihrer Weltpremiere hier schon veröffentlicht.

Alternative Porsche Taycan?

Der vom Antriebsstrang her baugleiche Porsche Taycan 4S kommt mit ähnlichen Werten, auch die Netto-Kapazität der Performance-Batterie Plus entspricht der des e-tron GT: Der Taycan 4S verfügt auch über knapp 84 nutzbare kWh. Der Taycan 4S soll bis zu 460 Km weit kommen. Also auf dem Papier genau das gleiche wie bei Audi. Wundert auch nicht, denn der Antriebsstrang ist der gleiche.

Wenn die Technologie der beiden vergleichbaren Gran Tourismo also weitgehend die selbe ist, bleiben die übrigen Eigenschaften zur Entscheidung für oder gegen den ein oder anderen auf der Basis des persönlichen Geschmacks.

Sportlich-loungiges Interieur

Unser Testwagen verfügt über die Sportsitze plus (Aufpreis: 1.990 Euro) mit Kunstfaserbezug (weitere 600 Euro). Man sitzt hier tief – also ziemlich direkt auf der Straße. Das fühlt sich gut an, ein bisschen wie in einem Langstrecken-Rennwagen. Eine recht steile Scheibe und eine sportliche Sitzposition schaffen Vertrauen und Verbundenheit mit der Karosserie. Die Übersicht ist gut – nur nach Hinten ist es etwas eng.

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Design ist ja immer Geschmackssache. Das Heckdesign eines Taycan aber würde man doch vorziehen, oder?

Es fällt auf, dass das Interieur schlanker ist als bei den konventionell angetriebenen Audi Modellen, einfach weil einige Verzierelemente fehlen. Das wirkt gut, denn immerhin zählt bei einem Elektroauto jedes Gramm. Elemente wegzulassen liegt daher nahe. Ein Plus bei der optischen Nachhaltigkeit gibt es für die dunkelbraunen Echtholz-Dekore (Aufpreis: 770 Euro). Darüber hinaus gibt es einen volldigitale Tacho und einen 10 Zoll großen Bildschirm in der Mittelkonsole. Die Verarbeitung liegt Audi-typisch auf sehr hohem Niveau und auch die Materialauswahl vermittelt ein hochwertiges Gefühl. Also perfekt für längere Reisen.

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Bevor jetzt die Frage aufkommt wie es beim Porsche Taycan 4S sei: Anders. Weniger loungig, noch sportlicher. Mehr Porsche eben, keine Echtholz-und-helle-Stoff-Cockpit-Landschaft. Das kostet auch ein bisschen mehr: Während es den Taycan 4S mit großem Akku ab 112.000 Euro gibt, fängt der e-tron GT schon bei 102.000 Euro an. Also durchaus ein Unterschied, der sich mitunter im Cockpit, im Fahrwerk, in der Antriebssteuerung und im Design niederschlägt. Um nur ein Beispiel der Extreme zu nennen: Die Ambientebeleuchtung kostet im Audi e-tron GT 570 Euro Aufpreis, während sie im Taycan 4S schon serienmäßig an Bord ist. Und ja: Eine Ambientebeleuchtung mag nicht der Maßstab sein, aber es zeigt die jeweilige Preis- und Ausstattungspolitik der beiden Hersteller. Darüber hinaus hat man sich mittlerweile an die Ambientebeleuchtung in einem Auto so gewöhnt, dass es ohne sie im Cockpit nachts ziemlich dunkel wirkt.

Präzises Fahren wie auf Messer’s Schneide

Auf der Landstraße sowie auf der Autobahn überzeugt der Fahrmodus “comfort”. Gekoppelt an die Drei-Kammer-Luftfederung und an die montierten 20-Zöller fährt er sehr komfortabel und gleitet souverän über unruhige Fahrbahnoberflächen – und das ganz ohne Rollen oder Aufschaukeln. Klasse. Und was auch für den Gran Tourismo-Charakter spricht: Dank Akustikverglasung (690 Euro Aufpreis) ist er darüber hinaus noch leise im Interieur.

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An einer Gleichstrom-Säule mit 800 Volt Spannung erzielt der Audi e-tron GT in der Spitze bis zu 270 kW Ladeleistung. Eine Ladung von 10 auf 80 Prozent SoC (State of Charge) dauert in der Realität (besonders bei niedrigen Temperaturen bei unseren Tests) rund 30 Minuten – ohne Vorkonditionierung des Akkus per voriger Zieleingabe ins Navi. Heißt: Es geht noch zügiger bei voriger Zieleingabe der Ladestation.

Da der 2.350 Kilogramm schwere Audi e-tron GT-Testwagen mit dem Dynamikpaket Plus ausgestattet ist – bedeutet Sperrdifferenzial an der Hinterachse, Allradlenkung und Luftfederung – gehört auch ein Wechsel in den dynamik-Modus zum Test dazu. Und das ist erstaunlich: Sein Charakter ändert sich millisekundenschnell. Seine Lenkung wird straffer, seine Kennlinie am Fahrpedal strammer – das Fahrwerk präziser. Alles ist spürbar. Wie beim Umstieg von Langstrecken-Sportlaufschuhen auf Sprintschuhe mit Spikes für den 50-Meter-Lauf. Wahnsinn. Kurven sind äußerst präzise zu fahren, die Elektronik lässt sogar leichte Gleitwinkel zu. Man fühlt sich wie in einem Maßanzug. Großartig. Wie sich das wohl der noch stärkere RS e-tron GT anfühlen muss?

Fazit und Bewertung Audi e-tron GT

Der Audi e-tron GT versteht etwas von Dynamik und Fahrspaß. Das ist mit Sicherheit zu Teilen seiner sportlichen Schwestermarke aus Stuttgart zuzurechnen. Und er kann auf jeden Fall Komfort und punktet beim schicken Interieur. In Sachen Langstreckentauglichkeit und Effizienz ist der e-tron GT aber sicherlich nicht dort, wo man zur Zeit sein könnte. Die Reichweite bei flotter Fahrweise ist einfach nicht vergleichbar mit modernen, konventionell angetriebenen Fahrzeugen. Ob hier ein Taycan im Alltag besser performt?

Bewertung Audi e-tron GT
Optischer Eindruck++++
Qualität Karosserie+++++
Lackqualität Karosserie+++++
Qualität im Interieur++++
Sitzkomfort Cockpit+++++
Sitzkomfort Fonds+++
Digitales Bedienkonzept++++
Raumangebot (bezogen auf das Segment)+++
Innenraumgeräusch / Dämmung+++++
Lenkung+++++
Spurtreue+++++
Fahrwerk++++
Motor++++
Getriebeabstimmung++++
Innovation++++
Preis+++
Gesamteindruck++++

Update (12.02.2022): Reaktion von Audi, e-tron GT vs. Taycan

Audi hatte sich als Reaktion auf unseren Beitrag gemeldet, weil wir die Netto-Kapazität des e-tron GT falsch angegeben hatten (bereits im Artikel korrigiert). Wir sind von knapp 88 kWh ausgegangen – er verfügt aber “nur” über knapp 84 kWh. Den selben Wert wie der Taycan. Unser Fehler, danke für den Hinweis.

Die andere Sache ist grundlegender: Der Vergleich von e-tron GT und Porsche Taycan gefällt Audi nicht (wer hätte es gedacht). Obwohl beide Fahrzeuge auf der selben Plattform basieren, über denselben Antriebsstrang verfügen und auch sonst mit einigen Gleichteilen auskommen, schreibt Audi:

Wir finden den „dauernden“ Vergleich mit dem Konzern-Bruder Taycan nicht zielführend, da eben aus Produktmarketing-Sicht bewusst andere Spezifikationen, technische Werte und demzufolge auch Abstimmungen festgelegt wurden, um sich zu differenzieren und vor allem auch eine andere Kundengruppe, als der Taycan hat, anzusprechen. Für uns als Audi haben die e-tron GT-Versionen in unserem Modellportfolio eine andere Funktion. Für uns sind die beiden Modelle die elektrische Speerspitze und damit das obere Ende des elektrischen Modellportfolios.

Audi Presseabteilung

Klar ist: Jede Marke, auch und vor allem Konzernmarken, versuchen sich natürlich entsprechend zu positionieren. Individualität zu betonen, bewusst sich abzugrenzen. Aber klar ist auch: Die Plattformstrategie des Volkswagen Konzerns – gerade auch durch die neue Konzernstrategie “NEW AUTO” getrieben – wird sich weiter intensivieren. Umso wichtiger ist die Rolle des Produktmarketings auf Herstellerseite, die natürlich versuchen, ihre jeweils auf gleichen Plattformen basierenden und mit einigen Gleichteilen ausgestatteten Fahrzeuge möglichst zu differenzieren.

Aber mindestens genau so wichtig ist dabei unsere Aufgabe – unsere journalistische Aufgabe – diese Fahrzeuge in den Gesamtkontext zu bringen und darauf hinzuweisen, dass es ähnliches noch bei einer anderen (Konzern-)Marken gibt.

Benjamin Brodbeck

Benjamin Brodbeck ist 33 Jahre alt und studierte Automobilwirtschaft bei Prof. Dr. Diez. Danach wechselte er an die Universität Wien, wo er Publizistik- und Kommunikationswissenschaften studierte und mit dem akademischen Grad 'Magister der Philosophie' abschloss. Neben seiner Tätigkeit als Jazz-Pianist bringt er seine Leidenschaft für und sein Wissen von Automobilen in Form und Sprache als Publizist bei AUTOmativ.de sowie zahlreichen weiteren Plattformen und Unternehmen zum Ausdruck.

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